Der Mid-Funnel – Wo und wie Konsumenten heute ihre Entscheidungen treffen!

Autoren: Jürgen Rösger & Aaron Herbst


 

Viele sehnen sich nach den guten alten Zeiten zurück: Einfache lineare Prozesse vom massentauglichen Produkt-Awareness-Aufbau bis zum Kauf. Auch wenn es in den 90ern mit Gerd Gerkens „Abschied vom Marketing“ schon erste theoretische Warnhinweise gab, dass es bald ganz anders werden wird, nämlich dramatisch komplexer, brauchte es letztendlich noch ein Vierteljahrhundert und ein neues Alltagsmedium bis die Massenindividualisierung zum Standard wurde. 

Sobald wir heute den Kauf eines simplen weißen T-Shirts in Betracht ziehen, bricht eine Flut an Informationen und Auswahlmöglichkeiten auf uns ein. Wir werden online dutzende Artikel über das perfekte T-Shirt finden, Content von Fashion-Influencern, die „beraten“ und Rankings aufstellen, Marken - die uns von ihrem Produkt überzeugen wollen, Online Händler - die mit Rabatten und Gutscheinen locken, Online Mode-Magazine - die Empfehlungen aussprechen usw.. Willkommen im Mid-Funnel! 

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Gut und gerne 350 Informations- und Kommunikations-Interaktionen investieren potentielle San-Francisco-Reisende in den Abschluss einer Reise-/Flugbuchung. Um die 80 um ein Waschmittel auszuwählen. Seit 2015 ist die Zahl der Konsumenten, die sich im sogenannten Mid-Funnel vertiefend mit ihrer Produktentscheidung beschäftigen um mehr als 250% gestiegen. Tendenz weiter steigend. Woran liegt das? Haben alle zu viel Zeit?

Was passiert genau im Mid-Funnel?

Kurz zusammengenfasst ist der Mid-Funnel zunehmend der Ort, in dem die Brücke von einem oberflächlichen Marken- / Produkt-Anreiz zum tatsächlichen Kauf eines Produktes/Services geschlagen wird. 

Gehen wir zurück zu dem Beispiel mit dem Kaufvorhaben eines weißen T-Shirts. Abhängig von unserer bisherigen Exposure, d. h. z. B. davon, ob wir vielleicht schon eine absolute Standardmarke für weiße T-Shirts haben, die uns im Abonnement beliefert, reagieren wir auf einen Trigger (wie z. B. den morgendlichen Blick in den Kleiderschrank) und starten einen Rechercheprozess. Sobald wir mit der online Recherche beginnen, bekommen wir zahlreiche Botschaften und Informationen über Marken, Online Händler, Influencer, Mode-Magazine, Bewertungsportale etc. Im Mid-Funnel erkunden wir diese Opportunitäten und bewerten ob sie für uns in Frage kommen. Dabei unterscheiden wir zwischen dem eher emotional geprägten beschnuppern und der rational getriggerten Bewertung. Der potentielle Kunde springt zwischen den beiden Phasen immer wieder hin und her, bis er schließlich eine Kaufentscheidung trifft. Nach dem Kauf beginnt die eigentliche Experience und somit die Chance, den nächsten Kaufprozess durch den Beweis der eigenen Produkt-, Service- und Experience Qualität nachhaltig zu beeinflussen und gleichzeitig Triggerpunkte für Up- und Cross-Sell innerhalb der Nutzungs-Exposure zu setzen. (siehe auch: Impact der Experience auf die Marke).

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Abb.: Google Australia, 2020

Was sind die Motive?

  1. Hilfe bei der Informationsverdichtung


    Der Interessent hat ein konkretes Kaufinteresse, Bedürfnis oder eine Fragestellung zu denen er jeweils vertiefende Angebote, Inhalte und Erfahrungen auch anderer sucht.

  2. Aufzeigen von Optionen und Möglichkeiten


    Über die vielfältigen inhaltlichen Impulse sucht und bekommt der Interessent immer weitere neue Insights und Perspektiven. Durch diese „moments of research“ können die Entscheidungsprioritäten immer wieder neu sortiert, der Prozeß der Exploration und Evaluation immer wieder neu angeschoben werden. Die gefühlte Entscheidungssicherheit steigt.

  3. Gewichtung der Inhalte - „Digitales Verkaufsgespräch“


    In einer permanenten Abfolge von Abwägungen emotionaler und sachlicher Argumente zu Themen wie Preis/Leistung, soziale Wahrnehmung und Zugehörigkeit, Zukunftssicherheit oder Nachhaltigkeit findet so etwas wie ein „digitales Verkaufsgespräch“ zwischen dem Interessenten und dem Anbieter statt.

  4. Entscheidungsvorbereitung 


    Der schlussendliche Versuch des Konsumenten auf Basis der emotionalen und sachlichen Impulse zu einer Kaufentscheidung zu kommen.

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Abb.: Google Australia, 2020

Was sind die Mechanismen dahinter?

Eigentlich ist es ganz einfach. Der Entscheidungsprozess pendelt permanent zwischen emotionalen Impulsen und rationalen Kriterien hin und her. Ein nicht enden wollendes Ping-Pong zwischen rechter und linker Gehirnhälfte, zwischen Emotio und Ratio. Und dabei geht es um die finalisierende Abwägung von Themen wie: 

  • Soziale Wahrnehmung der Produkte/Services

  • Was werden meine Freunde zu dem Kauf sagen

  • Ist das Preis-/Leistungs-Verhältnis gut

  • Wie fühle ich mich mit dem Produkt

  • Ist es zukunftssicher

  • Wie werde ich durch den Kauf von meiner Umwelt/Community wahrgenommen

  • Usw. usw.

Was bedeutet das aus quantitativer Perspektive – wonach wird gesucht?

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Dabei beeinflussen permanent neue „moments of research“ die Entscheidungsprioritäten während des Kaufentscheidungsprozesses.  

Das heißt der Entscheidungsprozess wird ständig durch neue Research-Impulse wieder und wieder neu beeinflusst. Google Australien hat in einer mit 250.000 kurz vor einer Kaufentscheidung stehender Probanden eine der größten Studien zu diesem Thema durchgeführt und ist dabei zu sehr eindrucksvollen Ergebnissen gekommen.

Konsumenten werden im Schnitt von ungefähr 300 unterschiedlichen, z.T. tiefenpsychologischen Entscheidungs- und Verhaltensprinzipien beeinflusst. Google hat diese in sehr aufwendigen Untersuchungen zu 7 Prinzipien zusammengefasst. Wir haben diese einmal aufgearbeitet und auch entsprechende Lösungsansätze dazu erarbeitet. 

Die 7 Verhaltensprinzipien (Quelle: Google AUNZ) im Mid-Funnel und mögliche Lösungsansätze dazu

  1. Übergreifende Markenpräsenz

    Die Marke / das Produkt sollte im Kategorie-Kontext und im Kontext aller möglichen Use-Cases präsent sein. 

    Konsumenten suchen nicht unbedingt nach spezifischen Produkten oder Marken, sondern zunehmend nach Lösungen für ihre Use-Cases. Die können bei einem PKW-Kauf u.a. sein: Sicherheit, Pferdesport, guter Überblick, mit dem Kajak ins Wochenende o.ä.. Es ist essentiell bei den Kunden während dieser Use-Case Exploration mit der eigenen Marke als Use-Case Lösung präsent zu sein. 

    Das bedeutet im Umkehrschluss zu verstehen, in welchem Kontext der geplante PKW-Kauf steht. Dafür sollte ich als Anbieter analysieren, welche potentiellen Use-Cases aus Sicht der Kunden existieren und relevant sind und wie ich mich als Hersteller für diesen bestmöglich empfehlen kann. Klassische PKW-KPI’s reichen nicht mehr, es ist vielmehr notwendig, eine übergreifende, Use-Case bedienende Relevanz-und Content-Strategie für den Mid-Funnel zu entwickeln und bereitzustellen.

    Dabei helfen methodischen Instrumente und Analyseverfahren wie z.B. eine Relevanzanalyse mit der sich kontextuelle Verbindungen zwischen Produkt/Marke und Konsumenten Use-Cases identifizieren lassen. Basierend auf den Ergebnissen lassen sich dann passende Inhalte-Strategien ableiten, umsetzen und datenbasiert optimieren.

  2. Kategorie Heuristiken

    Kurze Beschreibungen mit vergleichbaren, für die Kategorie nutzerrelevanten Kernfeatures vereinfachen den Benchmark.

    CO2-Ausstoss, Bio-Label, Qualitäts-Zertifizierungen und andere Kategorisierungs-Merkmale wie Testergebnisse oder die Zugehörigkeit zu einer Hotel-Kategorie (z.B. Relais & Chateaux) helfen dem Verbraucher Produkte und Dienstleistungen besser einstufen zu können.

    Um auch für die unterschiedlichen Interessensausprägungen der Konsumenten gerüstet zu sein empfiehlt es sich, um beim Beispiel des Hotels zu bleiben, einmal Mitglied bei Relais & Chateaux o.ä. zu werden, die Nachhaltigkeitsfrage über grüne Energie oder besonders effiziente Energienutzung zu beantworten bzw. in der Küche nur Produkte aus der Region zu verwenden und dieses auch entsprechend zielgruppenspezifisch zu kommunizieren bzw. im Mid-Funnel auffindbar zu gestalten

  3. „Power of now“

    Je länger man auf ein Produkt / eine Lösung warten muss, desto schwächer wird der Mehrwert wahrgenommen.

    Verfügbarkeit ist daher ein wichtiger Entscheidungstrigger. In Kombination mit Verknappung (nur noch 3 Zimmer in dieser Kategorie verfügbar) oder garantierter  Verfügbarkeit (bis 18:00 bestellen und spätestens übermorgen geliefert) sogar ein nachhaltiger Entscheidungsbeschleuniger

  4. Social proof

    Empfehlungen und Reviews von echten Nutzern sind besonders überzeugend - auch wenn sie nicht nur positiv sind.

    Konsumenten adaptieren die Meinung und folgen in der Regel auch dem Verhalten ihrer sich zugehörig fühlenden sozialen Gemeinschaft (siehe auch: Stanford Encyclopedia of Philosophy). Ein schönes Beispiel ist z.B. die Akzeptanz, 45 min in der Kälte auf einen Platz im angesagten Burger-Restaurant zu warten, während auf der gegenüberliegenden Seite ein halbleeres, über Plätze verfügendes, qualitativ vergleichbares Restaurant gemieden wird.

    Eine mögliche Lösung ist die Adaption der Marken-/ Use-Case-Benefits auf unter-schiedlichste Social-Segments mit entsprechend angepassten USP-Differenzierungen (für den einen ist es X, für den anderen ist es Y warum er sich für die jeweilige Marke entscheidet).

  5. Scarcity bias


    Je geringer der Bestand / die Verfügbarkeit desto verlockender das Produkt.

    Das Spiel das Booking.com & Co perfekt beherrschen ist das Spiel mit der Verknappung, um Entscheidungsprozeße zu beschleunigen. Im Grunde geht es ja um den Wettbewerb mit anderen Interessenten um ein rares Gut, das sich insbesondere für den sozialen Konsum einsetzen lässt (It-Bags, Sneaker Editions…) und daher die Eitelkeitssynapsen schneller pulsieren lässt.

  6. Authority Bias 

    Ein Experte oder Meinungsführer wirkt besonders überzeugend.

    Der Kompetenztransfer durch einen ausgewiesenen Experten in Form einer Nutzungs-Empfehlung oder dem Bekenntnis das Produkt selber zu nutzen hat einen hohen Einfluß auf Kaufentscheidungen. Produkt-Testimonials gibt es bis hin zu eigenen Produktserien (Jamie Oliver Tefal Pfannen). Das Grundvertrauen in Fach-Autoritäten ist auch einer der Trigger für Social Norms.

    Eine weitere Form von Authority Bias ist der Gewinn oder die adäquate Bewertung in Vergleichs- oder Produkttests was wieder sehr nah an das thema Kategorie Heuristiken heran reicht.

  7. „Power of Free“

    Ein Geschenk zum Kauf motiviert irrational stark - auch wenn es in keinem Bezug zum Produkt steht.

    Verbraucher haben eine sehr hohe Affinität für alles was es gratis dazu gibt. Free shipping by amazon beim Kauf des zweiten Buchs, free breakfast, 20% mehr Inhalt for free oder der zusätzliche Einkaufgutschein. Free ist extrem erfolgreich (siehe auch: Dan Ariely, Predictably Irrational). Dabei haben verschiedene Experimente gezeigt das es nicht immer nur um den reinen Mehrwert geht sondern ganz häufig darum, einfach etwas gratis on top zu bekommen.
    https://www.neurosciencemarketing.com/blog/articles/the-power-of-free.htm

    Wie spielen Anbieter mit diesem Phänomen bzw. wie kann es für die eigene Wertschöpfungssteigerung genutzt werden? Nehmen wie das Beispiel „free breakfast“. Hier kann das z.B. bedeuten, dass man das Standard-Frühstück gratis bekommt, alle Extras wie Eierspeisen, Orangensaft, Cappuccino aber kostenpflichtig sind. Insbesondere in Ländern wie den USA und Australien ein guter Weg die Gäste im Hotel zu halten und trotzdem den CLV zu erhöhen. Gleichzeitig ist for free auch ein sehr guter Treiber den Kaufentscheidungsprozess nachhaltig zu beschleunigen, insbesondere wenn es sich um zeitliche oder mengenmäßige Limitierungen (Scarcity bias) handelt (derzeit schauen sich 27 andere das Zimmer an, noch 3 Plätze frei…).

Wirkung der 7 Prinzipien beim Einsatz in Kaufentscheidungsprozessen – Ein kleiner Exkurs in die Google Marktforschungs-Studie

Bei diesem Experiment ging es um die Frage wie und in welcher Kombination/Ausprägung greifen die 7 von Google definierten und zuvor beschriebenen Prinzipien.

Dabei wurden rund 31.000 Konsumenten ihre 1st und 2nd Choice Brands für verschiedene Produktkategorien in einem einheitlichen Raster präsentiert.

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Abb.: Google Australia, 2020

Die bloße Präsenz der Wahlmöglichkeit lässt im Schnitt 30% ihre 2nd Choice Brand bevorzugen (Abb. unten).

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Abb.: Google Australia, 2020

Wird die Präsentation der 2nd Choice mit Inhalten aufgeladen, die die identifizierten Prinzipien bedient wechselt sogar die Mehrzahl der Konsumenten (Abb. unten).

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Abb.: Google Australia, 2020

Das Ergebnis ist mehr als beeindruckend aber es kommt noch besser.

Test 2: Funktioniert das auch ohne eine bekannte Marke?

Bei diesem Versuch wurden die 2nd Choice Brands durch fiktive Marken ersetzt, mit der Tester*innen noch nie zu vor interagiert haben. 

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Abb.: Google Australia, 2020

Doch auch bei diesem Versuch bestätigt sich die Wirkung der 7 Prinzipien, wie man aus der unteren Abbildung ersehen kann.

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Abb.: Google Australia, 2020

Allein dadurch, dass eine fiktive Marke in der Lage ist die Experience-, Convenience- und Bias- getriebenen Heuristiken im Entscheidungskontext besser zu bedienen, reicht ein oft jahrzehntelang gepflegtes Markenbild alleine nicht mehr aus um diesen Entscheidungsprozess gewinnen zu können.

Google hat aus diesen Erkenntnissen ein Handlungs-Modell abgeleitet.

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Abb.: Google Australia, 2020

Relevanz identifizieren und mit passenden Inhalten und Angeboten datenbasiert intelligent zu verknüpfen ist die Grundlage Kunden nachhaltig überzeugen zu können.

Die Handlungsfelder an sich sind isoliert betrachtet nichts Neues. Den entscheidenden Unterschied macht die datenbasierte und dadurch individualisierbare Orchestrierung im Mid-Funnel. Die zielgruppen- bzw. situativspezifische Ausspielung und Kombinatorik der vorgestellten 6 Handlungsfelder machen es zu einem extrem mächtigen Marketing-instrument. Verknüpft mit Echtzeit Wettbewerbs-Analyse Werkzeugen ist man als Anbieter in der Lage, kontextrelevant die Angebote zu optimieren. Das bedeutet zu verstehen, in welchem Kontext potentielle Käufer das Produkt erfahren sollten, um möglichst positiv darauf zu reagieren.

Fazit: Den Mid-Funnel nachhaltig und erfolgreich zu bespielen ist anspruchsvoll und herausfordernd.

Der Mid-Funnel macht das Zusammenspiel von Brand Maßnahmen und Performance Maßnahmen schwer zu steuern und es müssen gezielt Maßnahmen im Mid-Funnel ergriffen werden, um den Kunden auf dem Weg zum Kauf nicht zu verlieren.

Marken müssen deshalb neue Wege gehen, um den Kunden im entscheidenden Mid-Funnel Bereich für sich zu gewinnen. Denn hier wird die Kaufentscheidung des Kunden getroffen und hier lauert auch die Konkurrenz, Preisvergleichsseiten, Influencer etc., die den Kunden überzeugen wollen. 

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Der Mid-Funnel ist der inhaltliche Connect und Performancehebel zwischen Marken-Awareness-Aufbau und Lower-Funnel Conversion geworden.

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